Kurz, Bruno

von Donald Bracket, 2014 (lebt in Vancouver und ist ein Kunstkritiker und Kurator)
Übersetzung von Harald Smykla, London 2015

 

VERKLÄRUNG – DIE HOHE HELLE NACHT VON BRUNO KURZ

(Die genannten Arbeiten im Text können Sie auf der Internetseite von Bruno Kurz einsehen.)

 

Vom ersten Moment an, als mein Blick auf diese leuchtenden Bilder von Bruno Kurz fiel, begann ich, die Klänge von Schönbergs „Verklärte Nacht“ zu hören, ein Streichsextett in einem Satz, komponiert im Jahre 1899 und zuerst aufgeführt 1902 vor einem verwunderten Publikum. Ich kann nicht genau sagen warum (und muss es auch nicht), aber diese dunkel-intimen malerischen Gesten bringen es fertig, eine bestimmte musikalische Qualität zu vermitteln, die mich an expressionistische und atmosphärische Begleitmusik für düstere, verstörende aber wunderschöne Filme erinnert, die meist in kühlen, nördliche Gefilden spielen. Man erwartet fast, dass die verhüllte Figur aus einem Berman-Film sich in deren geheimnisvollen Weiten abzeichnet. Eine Menge dunkles Eis steckt in diesen Gemälden, aber sie haben auch ein leichtes Herz. Und es schlägt in reiner Farbe.

Diese emotionale Distanz, bekannt als „visuelle Aura“, bringt immer die Brechung eines Kunstwerks durch „das Ausdrucklose“ mit sich, die lockende, aber stets zurückweisende ästhetische Randzone dessen, was kenntlich sein oder gezeigt werden kann, der Grenzbereich des Unausdrückbaren, in dem das, was Benjamin den „Wahrheitsgehalt“ eines Kunstwerks nennt, am äußeren Rand seines Potentials sitzt. Diese Arbeiten sind Quasi-Diagramme dieser unbegrenzten Grenze.
Halluzinatorisch, tagträumerisch und schlichtweg großartig, laden sie uns ein, die Verklärung des Allgemeinen zu betrachten. Wahrnehmung an sich ist ihr eigentliches Thema.

Insbesondere ein Bild bestimmt den Ton für das, was dieses subtile visuelle Orchester uns später eröffnen wird, wenn sich der Rest der Instrumente den anschwellenden Klängen der zur Schau gestellten raum-zeitlichen Vision anschließt: „Easter Vigil (Osternacht) 12 lässt uns in ein unwiderstehliches Nachtstück eintauchen, das zugleich Eleganz und erschütternd ist.
Zwischenräumlich geschichtet, komplex, paradoxerweise zugleich weit entfernt und unmittelbar nah, ist dies ein unwiderstehliches sinnliches Zusammentreffen von Gefühlen für jene Betrachter, die ihren Geist abschalten und ihren Augen das Denken überlassen können. Das Spannungsfeld von Anziehung und Abstoßung, das entsteht zwischen einer super-flachen modernistischen Schichtung, in der das, was wir sehen, auch wirklich das ist, was wir fühlen, unausdrückbar aber physisch tiefgründig ist, ist vielleicht ein idealer Deutungsträger für das Ringen zwischen Vernunft und Leidenschaft in unserem Leben.

Der große Dichter Wallace Stevens hat einst Poetik definiert als „die Suche nach dem Unausdrückbaren“, und in diesem Sinne sind dieses Gemälde und seine Verwandten alle visuelle Gedichte. Sie deuten auf etwas Tiefes, ekstatisch Verstörendes, Forderndes hin: ein Gefühl, das ohne diese leisen Verweise nicht greifbar wäre. So wie bestimmte Musik (z.B. Cage oder Schönberg) auf Stille verweist, deuten diese auf das Unsichtbare. Sie tun das alle auf verschiedene Weise und mit verschiedenen Mitteln aber mit der gleichen emotionalen Wirkungskraft: Ihre serielle Natur weist auf eingeschlossene geologische Zeit selbst hin, die in einer Kreissequenz ohne Anfang oder Ende offengelegt wird, einer Sequenz, die von ihrer Natur her nicht narrativ ist, aber dennoch eine Geschichte zu erzählen hat. Eine Geschichte, die sich im äußersten Grenzbereich des Sehens abspielt.

Die Vulcanic Island (Vulkaninseln) – Serie zum Beispiel (…) haben eine raue Eleganz und wilde Schönheit, wobei ihre herzigen Farben anscheinend den Lava-Strom, der in ihrem Aufbau enthalten ist, nicht nur bildlich darstellen, sondern ihn tatsächlich zur Oberfläche weiterleiten aus der Tiefe einer unbekannten Unterwasserwelt von feurigen Schmelzöfen, aufwärts, zur Luft strebend, hin zu unsren erwartungsvollen Augen. Sie scheinen sich buchstäblich vor unseren Augen abzukühlen, die sich ihrerseits anfühlen, als würden sie leicht angesengt von deren befremdlich vertrauten Pracht. Die geschmolzene Magie, die sie mit sich tragen, ist zwar erstarrt, doch scheint sie immer noch vor unseren Augen weiterzufließen in einem Zustand ständigen Wandels. In Abwesenheit einer erkennbaren Figur-zu-Grund-Beziehung merkt man schnell, das sie der Grund und wir, die Betrachter, die Figuren sind. In jedem dieser Bilder ist ein Horizont, bzw. multiple Horizonte, wobei er nicht ein fixierter Bereich im Raum ist, sondern vielmehr eine auf zeitliche Dimensionen eingestellte Innenlandschaft. Derart unter Spannung gesetzt, fühlt sich der Betrachter angehalten, diese als vierdimensionale Gemälde zu begreifen; dies bringt unerwartete Belohnungen, die vorrangig im haptischen Bereich zu finden sind, in der Zone des Physischen wie auch des Metaphysischen.

Diese bemerkenswerte Werkgruppe in ihrer harmonischen Gesamtheit ist das Gegenteil von überschneller Technologie und zelebriert eine wahrnehmungsbezogene Langsamkeit als Kern allen wahren Sehens. Nach wie vor ist dies eine besondere Art von uralter und geheimnisvoller Technik, die organisch und ausschließlich auf Sicht und Sehen ausgerichtet ist. In fast jeden einzelnen dieser Gemälde sind die Übermittlung von Licht und seine emotionale Wirkung auf den Betrachter der eigentliche Gegenstand bzw. das eigentliche Thema. Wirklichkeit scheint durch.

Aura und Affekt bilden eine vollkommene Einheit in dieser Suite für illuminierte Farben des Inneren, einer Sequenz, die zugleich meditativ und energetisch aktiv ist. Tatsächlich ist einer der vielen Reize dieser Arbeiten die Art und Weise, in der sie als schwebende Konstellationen funktionieren, die sich umkreisen und miteinander in Beziehung treten als strukturelle Einheiten in einem in größerem Maßstab angelegten Drama. Die Themen entwickeln sich in unerhörter Harmonie und konzentrieren sich überwiegend auf Zeit, Farbe und Licht, ausgeführt mit einem sorgfältig ausgearbeiteten Minimum an Mitteln auf ein Maximum an Wirkung hin. Zeit an sich und ihre jahreszeitlichen Erscheinungsformen werden feinfühlig erkundet, z.B. in „A Touch of Spring (Ein Hauch von Frühling)“ mit seinem unverhohlenen Bekenntnis zu subtiler Tonalität oder mit der mehr muskulären Wirkung von „Flickering Sea ( Flimmerndes Meer)“, einer kühnen Konfrontation mit einer Elementargewalt, die zu immens ist, um verstanden oder unter Kontrolle gebracht zu werden. Wir sind stumme Zeugen dessen, was einst das Sublime genannt wurde.

Mit ihren rapiden Übergängen von glatt zu rau, von leuchtend zu düster, enthält diese Werkgruppe Polaritäten und Dichotomien, die viele Künstler in Versuchung führen könnte, diese zu separieren und überzubetonen, aber Kurz hat eine kühnere Herangehensweise, die es erlaubt, Paradoxe wie auch Widersprüche zu zelebrieren, wo andere Künstler sich mit vermeintlichen Gewissheiten zufrieden geben würden. Kurz jedoch gibt sich nicht zufrieden, er erforscht die grundliegende Natur der Natur: beständigen Wandel und Erneuerung, wie es so deutlich aufgezeigt wird in seiner „Autumn Storm (Herbststurm) – Serie“ (…). Hier kann man nicht nur die Transformationen sehen, die mit dem Wechsel der Jahreszeiten, mit Wachstum, Verfall und Wiedergeburt einhergehen, man fühlt sie auch im Blut, eben jeder Substanz, der so viele seiner Bilder am Ende ähneln: Sie scheinen biologische Entitäten zu sein, weil sie eben genau das sind: lebende Dinge eher als Repräsentationen von Dingen.

„Early Morning (Früher Morgen)“ und „Early Evening (Früher Abend)“ z.B. erfassen sowohl die Essenz von Unbeständigkeit als auch die vorübergehende Natur unserer Erfahrung, ebenso wie „Very Far Away (Sehr weit weg)“ das Paradox vertrauter Distanz zutage bringt, sowohl physisch als auch emotional.

Selten sind atmosphärische Bedingungen untersucht oder dargestellt worden mit einer derart ironischen Kombination von aktiven Elementen, die mit passiven Formen tanzen in einer perfekten Ratio von Ruhe und Dynamik. „Dark Light (Dunkles Licht) 1 und 2“ zum Beispiel, zwei der schönsten Arbeiten in der Suite, erfassen etwas Undefinierbares bezüglich unseres Verhältnisses zu Landschaft, Zeit und Licht. (…) Selten ist ein so täuschend einfaches Thema in einer so komplexen und nuancierten Weise angegangen worden wie in dieser Gruppe von Arbeiten.

Ähnliches gilt für seine bemerkenswert konzentrierte Untersuchung von Fjordthemen: Fjorde sind lange, enge Meeresarme mit steilen Klippen, durch Gletschererosion erzeugt und in Luftaufnahmen von wirklichen Fjorden erscheint Schnee ironischerweise grau, Gletscher erscheinen hellblau, und Landoberflächen mit Vegetation erscheinen rot, wo Gletscher in Seen eintauchen wie gefrorene Wasserfälle. Letztendlich scheint die Darstellung von gefrorener Zeit selbst eines der besonderen Talente dieses Malers zu sein.

„Evening in the Fjord (Abend im Fjord), Fjord Illuminated (Beleuchteter Fjord), Rainy Day in the Fjord (Regentag im Fjord) und Arctic Ocean (Arktischer Ozean) versuchen alle mit Erfolg, die Emotionalität einer geologischen Zeitzone zu erfassen, die viel langfristiger und größer ist als unser Intellekt, aber nicht annähernd so gewaltig wie unsere Vorstellungskraft, die sich bereitwillig anpasst und uns fröhlich in deren wunderbaren visuellen Glanz eintauchen lässt. Worte können nur annähernd die Wirkung dieser Werke auf unsere Retina beschreiben. Es sind Netzhaut-Ferien im besten Sinne des Wortes.

Diese gehobene organische Qualität resultiert weitgehend aus dem arbeitsintensiven Prozess des Künstlers, und tatsächlich kann man diese bedenkenlos als Prozessgemälde bezeichnen, mit denen sie die Spuren und Geister der Stoffleinwand gemeinsam haben. (…)

Jegliche zwar ehrlich gemeinte, doch fachlich unfundierte Auffassung, das Abstraktion als bildnerische Darstellungsform weniger technische Virtuosität erfordert als mehr traditionell-realistische Wiedergaben, kann einfach ausgeräumt werden durch einen Blick auf die Arbeitsmethoden und malerische Prozesse des deutschen Künstlers Bruno Kurz. Seine Meisterschaft in der Vorbereitung des Malgrunds , in Lasuren, Oberflächenstrukturen und der fühlbaren Präsenz von gestalterischen Landschaftsanklängen in seiner Arbeit demonstriert zumindest die gleiche Aufmerksamkeit für Details und Vertiefungen in die magischen Eigenschaften von reflektiertem Licht, die man sonst eher in den Visionen eines Vermeer oder Turner findet. Das geht soweit, dass man fühlt, hätten Vermeer oder Turner in unserem Jahrhundert gelebt, hätten sie wahrscheinlich ebenfalls eher Metall (in diesem Falle Aluminium), die Oberfläche höchster Resistenz, als die Romantisch besetzte Leinwand angenommen als Lieferfläche für Bilder, die versuchen die amorphen und flüchtigen Energien der vielschichtigen und rauen Umgebung wiederzugeben, die vor unseren Augen leben und atmen.

Es wird oft angenommen, dass das Kunstwerk im Zeitalter digitaler Reproduktion, insbesondere die Malerei, ein flüchtiges Medium ist. das verzweifelt versucht, Schritt zu halten mit einer ständig wachsenden Vielfalt von mechanischen Mitteln zur Verbreitung von Bildern. Aber nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein, da, während wir immer tiefer in die digitale Nacht selbst vordringen, das analoge Verfahren der Malerei selbst auferstanden ist und sich weiter erheben wird in die luftigen Höhen einer geradezu fetischistischen Spiritualität. Kurz´ künstlerisches Werk liefert reichliches Beweismaterial für die offensichtliche Tatsache, und seine Formenfamilie evoziert deutlich die erdige Kraft und Qualität von Landschaften, die leben, nicht einfach nur vor unseren Augen, sondern auch in uns selbst. Sie schwingen wie Stimmgabeln im Gleichgang, wobei jede einzelne ein zentrales Horizontmotiv hervorhebt und verstärkt, bis wir fühlen, dass wir nicht einfach nur Porträts der Natur betrachten sondern vielmehr Selbstporträts unserer eigenen auf sie bezogenen Geisteslandschaften.

Die besten und großartigsten Erfahrungen jener besonderen Art von bewusster und kreativer Tagträumerei, die man Malerei nennt, haben immer etwas Zwingendes: Wir unterwerfen uns ihnen einfach, ob wir wollen oder nicht, und werden dabei in einen unentrinnbaren Strudel hineingezogen, der buchstäblich verursacht wird durch unsere Nähe zu deren Sichtfeld, in Reichweite ihrer Aura, ihres Erlöschens. Wir erstarren in einem Zustand , in dem wir glücklich verweilen könnten, bis plötzlich etwas aus unserem Alltagsleben uns dazu zwingt, uns loszureißen und etwas vermeintlich mehr Praktisches zu tun. Doch was könnte ergiebiger und lohnender sein als das Schmelzen gefrorener Musik zu betrachten? Die Tatsache, dass ihr sensibler visueller Gehalt auf der dünnen Haut einer Metalllegierung treibt, verstärkt eher das kuriose Gefühl von „jamais vu“, das uns auf der gesamten seriellen Reise begleitet. Es ist dieses einzigartige Gefühl, Zeuge von etwas nie zuvor Gesehenem zu sein, das mit diesen Bildern einhergeht. Sie bieten dem Betrachter, der ihre Einladung, in konkreten Beschwörungen geologischer Zeit, annehmen kann, eine traumähnliche poetische Erfahrung. Was auch immer sie in einem Betrachter hervorrufen mögen, ist von gleichwertiger Gültigkeit, solange er sich ihrer Verklärung unterwirft; das ist der kapriziöse Charme ihrer eigenartigen Magie.

Diese Landschaften – oder vielleicht wäre „Geisteslandschaften“ präziser, wenn man ins Auge fasst, wie sie in einer Serie von montage-ähnlichen Einzelbildern von nahezu identischen Format zusammenkommen – gewähren dem Betrachter in gewisser Weise eine kinematische Erfahrung, eine Endlosschleifensequenz, die schnell und emotional eine Reihe von Orten etabliert, die metaphysisch kartiert werden. Dies sind Landkarten eines Territoriums, das jeder wiedererkennt, ob wir selbst dort waren oder nicht: der Künstler geht ja für uns hin. Im Falle der vielen hundert Horizonte, die sich vor unseren Augen aufreihen, fügen sich diese Innenlandschaften zusammen und verschmelzen in einer Serie von sich gegenseitig bedingten Struktureinheiten: eine Konstellation von Schauplätzen, präsentiert von einem Orchester von sich tief verdunkelnden Farben. Sie formen eine Suite von Bildern, die miteinander und mit uns kommunizieren, genauso wie ein Sextett eine interaktive Suite von Klängen zur gemeinsamen Instrumentierung ist. Es ist die spätere, umfangreichere Version für Streichorchester von „Verklärte Nacht“, die diese geschichteten, lava-ähnlichen Bilder in mir evozierten. Und wieder ist es die Dichtung von Richard Dehmel, die Schönberg an erster Stelle dazu bewegte, sein innovatives Sextett zu komponieren, die es irgendwie fertigbringt, etwas von Kurz´ bildnerischer Magie zu vermitteln:

 

Zwei Menschen gehen durch jahlen, kalten Hain;
der Mond läuft mit, sie schaun hinein.
Sie geht mit ungelenkem Schritt.
Sie schaut empor; der Mond läuft mit.
Ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht.
Ihr Atem küsst sich in den Lüften.
Zwei Menschen gehen durch hohe, helle Nacht.

 

Willkommen zu der hohen, hellen Nacht von Bruno Kurz.
Willkommen zurück zum Träumen mit offenen Augen.